Juli – Annegret geht auch

Eure Worte:

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Annegret geht auch

Das Leben gehört zum Herstellungsprozess der Wirklichkeit, dachte Jochen, als er mit dem Rücken an seiner Haustür lehnte und langsam aber sicher auf den ungefegten Boden rutschte. Das sagte seine Mutter immer, zum Beispiel an Tagen, wenn er mal wieder mit einem schlechten Zeugnis in die Sommerferien startete. So genau verstand er nicht, worauf seine Mutter da hinaus wollte, doch es klang vernünftig. Auch heute noch.

Nun saß er auf der falschen Seite seiner Wohnungstür und hatte genügend Zeit darüber nachzudenken.

Sein Schlüssel steckte von innen. Jochen hörte den Schlüsselbund, wie er schadenfroh vor sich hin wippte. 

Dieser traumatische Moment der Heimatlosigkeit, als die Tür ins Schloss schlug… Er wollte doch nur schnell etwas fürs Wochenende einkaufen. Schokolade, Bier und eine TK-Lasagne. Für Zufriedenheit brauchte Jochen nicht mehr. Er hätte längst wieder zurück sein können. Und jetzt? Es war Freitag, siebzehnuhrsechs. Sein Handy lag auf dem Sofa, der Hausflur gähnte menschenleer, wie er es immer tat. Es wohnten sicher hundert Personen hier im Haus und er kannte niemanden. Wie traurig ist das bitte, dachte Jochen. 

Nun…, er ergab sich seinem Schicksal, indem er darüber nachdachte, was er tun würde, wenn er mal aufs Klo müsse oder wie er es schaffen würde, irgendwann wieder vom Boden aufzustehen. Seit seiner Knieverletzung Anfang des Jahres, war es ihm eigentlich unmöglich, ohne fremde Hilfe aus tiefen Positionen hochzukommen. Sei’s drum, ich kann das schon irgendwie, dachte Jochen. 

Wirklichkeit… was hatte es damit nur auf sich? Sein Älterwerden war Wirklichkeit. Inklusive allem Für und Wider. Er selbst empfand sich noch gar nicht so alt. Im Gegenteil. Nach der Trennung von seiner Frau fühlte er sich oft sogar wieder richtig jung. Was nichts mit der Frau, sondern eher mit seinen neuen Lebensumständen zu tun hatte. Reihenhaus mit Sonnen-Grundstück, Nachbar-Glück und beständigem Freundeskreis, tauschte er durch Singlewohnung mit leerem Kühlschrank in anonymer, fremder Stadt, noch ohne Freunde. Alles neu. Alles frisch. Ein Für und Wider seines Zweitenfrühlings.

Geistig war er voll auf der Höhe, topfit, so klar wie lange nicht mehr. Nur seine wachsenden körperlichen Gebrechen und der vermehrte Haarwuchs an Rücken, Nacken und Pobacken erinnerten ihn an sein Alter. Morgen hatte er Geburtstag. 48 Jahre jung würde er vielleicht werden, falls er überlebte. Vermutlich aber würde er als langhaariger Rübezahl verhungern, auf ungefegtem Beton, direkt vor seiner Wohnungstür, im Rücken ein schadenfroher Schlüsselbund. Jochen dachte an die zotteligen Leadsänger von ZZ-Top und die TK-Lasagne, die er sich heute reinzwiebeln wollte. Dazu Bier, relaxen und nixweiter. So war der Plan. Nun machte er Diät. Wieder schrappten seine Gedanken an der Wirklichkeit. Im Alltag störte ihn diese viel gepriesene Realität eher. Wenn es nach ihm ginge, dann wäre das Leben eine Romanhandlung. Er liebte Liebesromane. Das hatte zum Einen etwas mit seinem stressigen Job zu tun, zum Anderen sehnte er sich nach einer nächsten, wahren, gefühlt unendlichen Liebe. Wäre das jetzt ein Roman seines Lieblingsautors, dann würde ihm innerhalb der nächsten Minuten eine wunderschöne Frau begegnen. Sie würde Amelie, Emily oder Sofie heißen. Sie würde ihm die Hand und gleichzeitig ihr Herz reichen, sie wären auf den ersten Blick bis aufs übelste und unsterblich ineinander verschossen. Es gäbe ein paar zwischenmenschliche Krisen, die lediglich auf Missverständnissen beruhen würden. Er müsste sich vielleicht mit einem Poolboy vom Strandhaus gegenüber beim Beckenrand-Yoga duellieren. Rechtzeitig zum Happy End würde Amelie, Emily oder Sofie ohne weitere Anstrengung erkennen, dass Jochen zwar nicht heiß genug für Obenohne im Freibad war, aber mit seiner cleveren, liebenswürdigen Art sogar den schwierigen Teil ihrer Familie zu überzeugen wusste. Alles in allem wäre ihre gemeinsame Zukunft wie vom Universum vorherbestimmt und rosig. Ja, diese Handlung würde zum Humor seines Lieblingsautors passen. 

Jochen schloss die Augen und seufzte. Ach, hätte er doch nur Stift und Papier, dann würde er diesen Roman gleich selbst schreiben. Zeit genug hätte er sicher. Seine Gedanken waren unterwegs, und er begann, seine Situation auf absurde Art und Weise zu genießen. 

Einige imaginäre Handlungsstränge später hörte er im Erdgeschoss die Haustür, danach ein weibliches Stöhnen, Ächzen und Fluchen. Flaschengeklacker, Tütengeknister, die Haustür knallte zu. Jemand schwitzte sich scheinbar schwerstbepackt die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Flipflops… oder Taucherflossen knallten auf den Stufen und hallten durch den Hausflur. Jochen war gespannt und peinlich berührt gleichzeitig. 

Eine Frau lief an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, … ohne ihn beachten zu können. Die Tüten und Kartons, die sie gleichzeitig balancierte, versperrten ihr die Sicht. Jochen dachte an ein Flugzeug, eher an eine tosende Frachtmaschine und er biss sich auf die Lippen, um nicht Turbinengeräusche zu imitieren.

Er hörte, wie sie ihre Fracht etwa zwei bis drei Wohnungstüren später absetzte.

Das Geräusch ihrer Flipflops wurde wieder lauter. Sie kam zurück. 

»Huch«, sagte sie, als sie Jochen sah. 

»Nabend«, sagte Jochen. 

Sie nickte und ging weiter. Wenig später – ähnliches Spiel – leichteres Gepäck. Sie trug eine Wassermelone in der einen Hand, in der anderen Hand ihre Post. Jetzt aber blieb sie vor Jochen stehen und blickte zu ihm nach unten. 

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie. 

Es bedarf einer enormen Disziplin, auf leichte Fragen nicht zu schnell zu antworten. In solchen Momenten dachte Jochen immer an das Wort »Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz«, das in etwa die angemessene Zeitspanne für die Antwort überbrückte.

Danach sagte er: »Ja.« 

»Was tun Sie da?«, fragte sie. 

»Sommerfest«, sagte er, ohne vorher sein Wort geflüstert zu haben. 

Sie lachte und Jochen war sich plötzlich sicher, sie war Amelie, Emily oder Sofie. Sie musste es sein. 

»Wo sind Ihre Gäste?« 

Jochen wusste keine Antwort und zuckte die Schultern. 

»Moment!«, sagte sie und ging zu ihrer Wohnungstür. 

Als hätte Jochen eine Wahl, wartete er. 

Wenig später kam sie zurück.  

Sie trug ein Tablett, darauf lagen: eine aufgeschnittene Wassermelone, Servietten im Serviettenhalter, eine Flasche Frühburgunder, zwei Gläser dekoriert mit Johannisbeeren, ein Sparschäler, eine selbstgedrehte Zigarette, ein Feuerzeug, ein Taschenaschenbecher und ein Handy. 

Meine Fresse, dachte Jochen. 

Sie reichte ihm das Tablett, er nahm es und sie setzte sich zu ihm auf den Boden, ohne seine Tür als Rutsche benutzen zu müssen. 

Jochen sah sie einfach nur an. Sie hatte lange, wellige, etwas verschwitzte Haare, in schlechtgefärbtem braun mit Ansatz und grauen Resten. Sie musste älter als er selbst sein. Aber nicht viel. Vielleicht war sie 50, oder so. 

»Mögen Sie Ska?«, fragte sie. 

Jochen wusste nicht, ob er Ska mag. Aber falls es sich dabei um die Musik handelte, die kurz darauf aus ihrem Handy durch den Hausflur schallte, war er sehr zufrieden damit.

Sie zündete sich die Zigarette an, nahm einen kräftigen Zug und reichte ihm die glühende Verlockung. Der Geruch war ihm eindeutig vertraut. Gras. 

Beim Ausatmen sagte sie: »Hab ich aus Kroatien mitgebracht.« 

Es klang wie ein Qualitätsmerkmal und Jochen griff zur Zigarette, nahm selbst einen Zug. 

Jochen dachte daran, was seinem Lieblingsautor dazu einfallen würde. Vermutlich irgendwas mit Sommernachtsstunden und Spätabendhimmelstimmung. Jochen lachte. 

»Was ist komisch?«, fragte sie und öffnete derweil den Frühburgunder mit dem Sparschäler und füllte die Gläser, bis die Johannisbeeren ihren Halt am Glasrand aufgaben.

Merkwürdige Person, dachte Jochen, nicht ohne, vor keimender Bewunderung, dahinzuschmelzen. 

»Das Leben«, antworte er. 

»Ist Ihr Leben komisch?«, fragte sie. 

Jochen überlegte, denn das war eine schwierige Frage, trotz seiner aktuellen Lage. 

»Mein Leben… hm…«, sagte er. »Mein Leben gleicht zurzeit einer Havelrundfahrt und sie endet im Hitzschlag trotz Nieselwetter. Lieber wäre mir ein Drachenbootrennen mit einem kleinen Sonnenbrand oder zumindest eine Barkassen-Fahrt mit anschließendem Fischbrötchen.« 

Jochen war sicher, es war das Gras, das aus ihm sprach. 

Sie lachte. 

Jochen erzählte ihr die ganze Geschichte. Er ließ nichts aus. Nicht mal die TK-Lasagne. 

Gemeinsam rauchten, tranken und lachten sie noch ein wenig, bis sie ohne Mühe aufstand und ihm die Hand reichte. 

»Kommen Sie, wir suchen mal die Nummer vom Schlüsseldienst«, sagte sie. 

Jochen nahm ihre Hand, sie zog kräftig und er schaffte es aufzustehen. Der Schwung ließ ihn beinahe in ihre Arme fallen. Wären sie beide gerade im Liebesroman seines Lieblingsautors, würden sie jetzt tanzen müssen. Oder küssen. Oder so. 

Aber Jochen fragte: »Wie heißen Sie eigentlich?« 

Und er hoffte, Amelie, Emily oder Sofie. 

»Annegret«, sagte Annegret. 

Nun gut, dachte Jochen. Annegret geht auch. 

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