September – Es tut gut

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Es tut gut

Eine Schnaufpause wird mir gut tun. Meine Lunge brennt. Ich erneuere meinen Zopf. Sehe wo ich bin. Habe nur eine grobe Idee. 

Aber es ist friedlich, als wäre das ein Waldspaziergang. Ich lache und stöhne gleichzeitig. Meine Lunge brennt weniger. Trotzdem brauche ich einen weiteren Moment. 

Eigentlich ist noch Spätsommer. Nur meteorologisch betrachtet, beginnt genau heute der Herbst. Für mich ist Herbst, wenn in den Supermärkten Weihnachten mit Lebkuchen und Dominosteinen angekündigt wird und es endlich neue Äpfel zu kaufen gibt. Na gut, bevor ich anfange mich mit mir zu streiten … wann beginnt die Apfelernte? Dann ist Herbst!

Ich meine mich zu erinnern, mal gehört zu haben, erst wenn die Wespen im Winterquartier verschwinden und die ersten Weberknechte nachts in den Wohnungen Zuflucht suchen, dann seien die Äpfel pflückreif. Das mit den Wespen kann ich mir irgendwie erklären, Sicherheit während der Ernte und so. Aber was Weberknechte mit dem Reifegrad von Äpfeln zu tun haben, ist mir ein Rätsel. 

Schon merkwürdig welche Gedanken ich mir mache, nach dem heutigen Tag, nach Gestern, nach der vergangenen Woche, ach was rede ich… allein nach den letzten drei Stunden. 

Aber Gedanken sind wie Herden. Und wenn die Stampede erstmal rennt… nun… was soll ich sagen, da verliere ich gefährlich den Überblick. Also fokussiere ich mich auf Apfelernten, Herbstanfang und das Summieren von eventuellen Symptomen einer nahenden Sommergrippe. Es hilft wenig. Das Brennen meiner Lunge hat definitiv andere Gründe und leider nichts mit einer Erkältung zu tun. Ich wünschte, ich hätte etwas zu trinken dabei. Mein Speichel ist eine klebrige Mischung aus Staub und Schweiß. 

Ich fühle den zerknüllten Zettel  in meiner linken Faust. Ich hätte nicht danach fragen sollen. Das war absolut unprofessionell. Aber jetzt wo ich seine Adresse weiß, sollte ich auch zu ihm gehen. Natürlich könnte ich den Zettel auch einfach wegwerfen, aber da rennen bereits neue Herden von Gedanken auf mich zu, sie sind hinter mir her und ich laufe davon. Ich renne weiter. 

Einige Kilometer später stehe ich in einem mir unbekannten Hinterhof. Ich versichere mich mit einem Blick auf den Zettel. Ich bin richtig. Die Abendsonne quält sich über den Dachfirst, spiegelt sich in einigen Fensterscheiben und verwandelt die Wohnungen dahinter in kleine Brutöfen für Menschendinge. Aus einem der Fenster dringt Musik. Ein melancholischer Grönemeyer echot zwischen den Balkonen. Es klingt wie der Abspann eines traurigen Films. 

Kein Wind. Ein Wetter-Gockel auf dem Dach bestätigt das. In der Luft liegen schwere Reste von Grillanzünder und der Beginn eines Grillabends unter Nachbarn. Als wäre nichts gewesen. Als wüssten sie alle nicht, was geschehen ist, als wäre heute ein jungfräulicher Mittwoch, oder ein Tag an einem Wochenende. 

Ich suche die richtige Haustür und finde sie. 

Ich klingle, starre auf seine Fußmatte. ‚Immer rain spaziert‘, steht da auf braunem Sisal. Ich kapiere es erst, als die Tür sich öffnet. 

»Oh«, sagt er. »Sie habe ich nicht erwartet.« 

Ich frage mich, wen er erwartet haben könnte. An diesem Tag, zu dieser Uhrzeit. Für einen Pflegedienst scheint er mir noch etwas zu jung. Zeitgleich droht von hinten eine neue Gedankenherde. Bevor sie mich erreicht, spreche ich endlich. 

»Ich wollte nicht stören. Ich wollte nur sehen wie es Ihnen geht.« 

»Ist das üblich?«, fragt er. 

Eine Gute Frage auf die ich keine Antwort weiß. 

»Aber kommen Sie doch erstmal rein«, sagt er. 

Und ich bin froh, als er die Tür hinter mir schließt. 

Es ist still. Es ist kühl. Es ist sicher. Es tut gut.

Ich sitze an seinem Küchentisch. Er reicht mir ein Glas Wasser und ich leere es in einem Zug. 

»Danke«, sage ich und er füllt nach. 

Er legt ein in Stückchen geschnittenes Butterbrezel auf den Tisch. Eins von der Tankstelle, das erkenne ich an der Tüte. 

»Möchten Sie sich vielleicht kurz frisch machen? Sie dürfen auch gern duschen, oder so. Ich gebe Ihnen ein frisches T-Shirt.« 

Er redet und redet. Als wäre es das normalste der Welt, dass ich in seiner Küche sitze, als genieße er den unerwarteten Kurzweil eines Augenblicks. Er sagt Dinge, die gleichzeitig verstören und wohltun. Je mehr er redet, desto abgefeimter fühlt es sich an, hier zu sein.

Ich lege meine Waffe auf den Küchentisch. Daneben mein Handy und meine Dienstmarke. 

Er zuckt zusammen. 

»Kommen Sie gerade vom Dienst?« 

Ich nicke. 

»Haben Sie etwa heute schon wieder gearbeitet?« 

Ich nicke nochmal. 

»Knallhart!«, sagt er.

»Was ist mit Ihnen. Sind Sie krankgeschrieben?«, frage ich. 

»10 Tage«, antwortet er. 

»Das ist gut«, sage ich. »Sie haben gestern tolle Arbeit geleistet. Ohne Sie, wäre die Sache vermutlich nicht so glimpflich abgelaufen.« 

»Glimpflich?«, fragt er. 

»Dank Ihnen ist niemand tot.« 

Er nickt. 

»Ich würde sehr gern kurz duschen, wenn es wirklich in Ordnung ist.« 

Er nickt nochmal.

Er reicht mir ein riesiges Handtuch in Hippiefarben, ein T-Shirt und bringt mich zur Badezimmertür. 

»Reichen Sie mir Ihr Shirt raus. Ich versuche mal den Farbklecks auszuwaschen.« 

Ich sehe an mir herunter. Ein Farbenspiel aus feuchten und getrockneten Rottönen in der Konsistenz von Speichel.

»Das ist keine Farbe. Das ist Blut.«

»Ach so«, sagt er. »Brauchen Sie Pflaster?«

»Nicht mein Blut«, ergänze ich. »Ich wasche es trotzdem lieber selbst.« 

»Ich bestelle uns eine Pizza«, sagt er und verschwindet.

Ich verriegele die Badezimmertür. Ein kleines Bad, fensterlos. 

Meine Klamotten liegen auf der Klobrille. Oben auf das frische T-Shirt. Weiß, mit Schrift. Nur drei Hashtags: #Love #Hope #Pommes. Ich liebe es. Die Lüftung springt an und rauscht lauter als das warme Wasser über meinen wunden Körper. Ich bediene mich an seinem Duschgel. Es tut gut. 

Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist. Aus der Küche höre ich das vertraute Geklimper einer Besteckschublade. Es klingt nach Lebenshunger und ein bisschen auch nach Glück. Aber die Pizza ist noch nicht da, als ich mich wieder zu ihm an den Küchentisch setze.

»Ihr Handy hat auffällig oft gebrummt. Vielleicht sollten Sie mal nachsehen.«

Ich nehme es und sehe aufs Display. Elf Anrufe in Abwesenheit. Sieben neue Nachrichten. Ich lese sie. 

»Erzählen Sie mir was passiert ist?« 

»Die Nachrichten sind von meinem Partner. Kommissar Popolski. Sie haben ihn gestern kennengelernt. Erinnern Sie sich? Der große Typ, mit dem Bart.« 

»Ah, ja. Natürlich. Netter Mann. Wie geht es ihm?« 

»Nicht so gut, denke ich.« 

»Ist das Blut auf Ihrem T-Shirt von ihm?« 

»Nein, nein.« Ich lache und bekomme diesbezüglich Angst vor mir.

»Nun. Was schreibt Herr Popolski? Wollen Sie es erzählen?« 

»Lange Geschichte«, sage ich. 

»Bis die Pizza kommt, haben wir noch etwas Zeit.« 

»Grob gesagt, es war nicht die beste Idee heute schon wieder zum Dienst zu erscheinen.« 

Es klingelt an der Tür. Er steht auf und öffnet sie. 

»Oh«, sagt er. »Sie habe ich nicht erwartet. Aber kommen Sie doch bitte rein.« 

Vor mir steht Kommissar Popolski. Sein Blick ist Anklage und Urteil in einem. 

»Was verdammt tust du hier? Was ist in dich gefahren? Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Seine Worte packen mich an den Schultern und schütteln mein Skelett. 

»Wie geht es … ihm?«, frage ich.

Popolski seufzt und setzt sich zu mir an den Küchentisch. Mit seiner Hand zieht er meine Waffe und Dienstmarke näher zu sich. 

»Du hast ihn übel zugerichtet. Kieferbruch.« 

Ich blicke auf meine rechte Hand. Erst jetzt fühle ich die aufgeplatzten Fingerknöchel. Auch etwas Schmerz erreicht mein Bewusstsein. 

»Es tat gut«, sage ich. 

Sein Mund steht offen wie der Eintritt in einen Paternoster. Ich sehe seine Gedanken auf- und abfahren. 

»Du bist suspendiert. Vorerst. Das verstehst du sicher. Und das nehme ich solange an mich.« 

Er nimmt meine Waffe und meine Dienstmarke. »Wir melden uns bei dir«, sagt Popolski.

Er verabschiedet sich von uns beiden und geht. 

Es ist still. Es ist kühl. Es ist sicher. Es tut gut, als er die Tür hinter ihm schließt. 

»Was möchten Sie jetzt tun?«, fragt er. 

Ich weiß nicht so recht, was ich darauf antworten soll. Gemeinhin käme jetzt eine Art des Bereuens auf, ein Gewissen das aus der Wildnis meines Herzens zu mir spricht. Es wäre also höflich nach einem Neustart des Tages zu bitten. Aber das fühlt sich verkehrt an. Irrungen sind ausgeschlossen. Es tat zu gut, um falsch zu sein. Ich bereue nichts. Nichts, bis auf… 

»Wissen Sie was ich versäumt habe?« 

Er schüttelt den Kopf, als hätte er wirklich versucht eine Antwort zu wissen. 

»In diesem Jahr habe ich versäumt eine Pusteblume zu pusten. Ich habe den gelben Löwenzahn gesehen und die leergepusteten Stengel. Das dazwischen habe ich verpasst.« 

»Das ist schade«, sagt er. 

»Ja, schade, es hätte mir gut getan«, sage ich. 

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