Vielen lieben Dank für diese #DreiWorte an Regina.
Ben-Peter konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal mit dem Zug unterwegs gewesen war. Es war Monate, wenn nicht sogar Jahre her.
Das lag nicht daran, dass er abseits von Schienen und Bahnhöfen irgendwohin gefahren wäre. Also mit einem Fahrrad oder einem Taxi, oder so. Nein, er war einfach Nirgendwo.
Er wusste, dass das für die meisten Menschen total absurd klang. Wie könnte jemand wie er, ein im Leben stehender Mensch, nie irgendwo gewesen sein? Ben-Peter malte sich diese und alle möglichen Fragen aus, die ihm hätten gestellt werden können, wenn er darüber mit jemanden gesprochen hätte.
Hattest du nicht das Bedürfnis mal rauszukommen, was anderes zu sehen, was anderes zu erleben? Warst du einsam? Traurig? Warst du krank mit offizieller Diagnose?
Warst du, bist du, und die schlimmste aller Fragen: Warum?
Nein und ich weiß nicht, hätte er geantwortet, mehr nicht. Nicht, weil es die Wahrheit wäre oder er die Antwort nicht kannte. Er ahnte einfach, nur wer selbst eine Zeit lang ortelos gewesen war, könnte ihn verstehen.
Da aber niemand jemals über so etwas laut sprechen würde, fühlte er sich merkwürdig allein, als er an diesem Morgen am Gleis 7 auf seinen Zug wartete und die mitgebrachte Blase der vergangenen Isolation stumpf und löchrig wurde.
»Entschuldigen Sie bitte, junger Mann«, sagte eine Frau als sie und ihr Liegestuhl sich an ihm vorbeischieben wollten.
Sie zog den letzten Rest seiner Blase mit sich davon.
»Kein Problem«, sagte Ben-Peter und wich einen Schritt zurück. Der Liegestuhl war mindestens genauso groß wie die Frau. Sie war 100 oder 80 Jahre. Im Schätzen war Ben-Peter nie besonders gut, aber sie war alt, soviel stand fest.
Die Frau klappte ihren Liegestuhl direkt links neben Ben-Peter auf und lies sich mit einem Geräusch von belohnender Erleichterung in den Hochlehner fallen.
Es muss wirklich anstrengend für sie gewesen sein, diesen riesigen Stuhl die Treppen zum Gleis hochzuwuchten, ihr musste jemand geholfen haben, dachte Ben-Peter.
Sie zog die Armlehnen hoch, um die Rückenlehne nach hinten und das eingeklappte Fußteil nach vorne schnellen zu lassen.
Sie strich ihren faltigen Rock glatt, ruckelte sich selbst noch etwas tiefer in die grüngepunktete Auflage, faltete ihre Hände vor der Brust und schloss die Augen, als nähme sie ein Sonnenbad.
Es sah gemütlich aus.
Ben-Peter wollte nicht so hinstarren, also versuchte er stattdessen die wichtigsten Informationen auf dem Gleisanzeiger auswendig zu lernen. 9 Minuten Verspätung. Achtung. Wagenaufteilung in umgekehrter Reihenfolge. 1. Klasse Abschnitt A und B, Bordcafé Abschnitt C. Alles dahinter 2. Klasse. Er kniff die Augen etwas zusammen, dann konnte er erkennen, dass in Abschnitt E Fahrräder mitgenommen werden konnten.
»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach ihn die Frau im Liegestuhl.
Ben-Peter sah wieder nach Links und blickte in die lustigen Augen dieser alten Frau.
»Könnten Sie das kurz mal halten?«, fragte sie und streckte ihm mit ihren arthritischen Fingern ein Doppelpack Wackelpudding und zwei silberne Löffel entgegen.
Gar keine Frage: Natürlich hielt Ben-Peter die Schleckerei für die alte Frau. Das war das Mindeste, was er tun konnte, wenn er schon nicht da war, um ihr mit dem Liegestuhl und den Stufen zum Gleis zu helfen.
Sie stellte die Rückenlehne wieder gerade, kramte in ihrer Tasche, zog ein besticktes Stofftaschentuch heraus und breitete es auf ihrem Schoß aus.
»Danke«, sagte sie und nahm ihm den Wackelpudding wieder ab. Ben-Peter behielt vorerst noch die beiden Löffel.
»Wissen Sie, ich hatte ja kurz überlegt, ob ich nicht doch lieber den Liegestuhl mit Getränkehalter mit auf die Reise nehme, hab mich dann aber dagegen entschieden. Naja. Zum Glück stehen Sie neben mir und konnten mir assistieren.« Sie grinste.
Die Frau brach das Puddingbecherdoppel auseinander und tauschte mit Ben-Peter einen Löffel gegen einen Puddingbecher.
Sie prostete ihm mit ihrem Becher zu, öffnete ihn und löffelte los.
Ben-Peter tat es ebenso.
Der Geschmack von weichem Waldmeister, cremig, wackelig. Vanillesoße war auch dabei. Köstlich.
23 Minuten später kam dann auch der Zug.
»Wissen Sie«, sagte die alte Frau während sie ihren Liegestuhl zusammenklappte. »Normalerweise fahr ich immer mit dem Bummelzug zu meiner Freundin. Drei Mal umsteigen, sechseinhalb Stunden fahrt, dafür aber günstig. Heute hab ich mir mal richtig was gegönnt und es fühlt sich prima an.«
Ben-Peter nickte. Er stellte sich die alte Frau vor, wie sie an kleinen Vorort-Bahnhöfen ihren Liegestuhl trepprauf trepprunter schleppte, und es brach ihm das Herz.
»Teilen wir uns ein Abteil?«, fragte er, als er beherzt ihren Liegestuhl in den Zug wuchtete und ihr anschließend seinen Arm zur Stufenassistenz reichte.
»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete die Frau und lächelte ihr lustiges Lächeln.
Sie fanden schnell ein freies Abteil und machten es sich darin gemütlich. Sie saßen sich gegenüber. Beide mit Fensterplatz. Der Liegestuhl und Ben-Peters Rucksack bekamen beide einen eigenen Platz. So früh am Tag, mitten in der Woche wollte oder konnte einfach niemand dahin fahren, wohin die beiden unterwegs waren. Und so hatten sie das gesamte Abteil für sich allein.
»Sie besuchen also Ihre Freundin?«, fragte Ben-Peter. »Das ist nett. Woher kennen Sie sich? Reisen Sie oft?«
Er wollte das wirklich alles – und noch viel mehr – von dieser alten Frau wissen. An Schicksal glaubte er schon lange nicht mehr, aber diese Begegnung war besonders. Das spürte Ben-Peter.
Die alte Frau antwortete auf alle seine Fragen, er hörte gespannt zu. Es berührte ihn, als sie davon erzählte, wie unsichtbar sie für die Menschen in den letzten Jahren geworden war, bis sie eines Tages damit anfing, immer diesen Liegestuhl dabei zu haben.
»Damit fällt man auf oder stößt zumindest das ein oder andere mal tüchtig an«, witzelte sie und ihre lustigen Augen funkelten.
Sie plauderten, lachten und dann seufzten sie und schauten der Welt vor ihrem Abteilfenster eine kleine stille Weile dabei zu, wie sie an ihnen vorbeiflog.
»Darf ich Sie auch mal was fragen?«, fragte die Frau.
Ben-Peter nickte.
»Was ist mit Ihnen passiert, dass Sie ausgerechnet heute auf dieser Reise sind? Was wollen Sie tun, wenn Sie angekommen sind?«
Ben-Peter zögerte nicht, aber er überlegte einen Augenblick, wie er sich am besten ausdrücken sollte.
»Ich war zu lange ortelos. Es war einfach an der Zeit«, sagte er dann. Wenn es jemand verstehen könnte, dann diese Frau, dachte er sich. Und so war es.
Restlos von jeder Hemmung befreit, erzählte Ben-Peter dieser Frau einfach alles. Von seiner Sehnsucht nach dem Meer, nach Licht und Weite. Von dem Bedürfnis Sand zwischen seinen Zehen zu fühlen. Er erzählte ihr davon, wie er in seinem Zuhause ankommen und auf dem Balkon einen Gin Tonic genießen wollte. Dabei würde er die Möwen beim abendlichen Spaziergang auf den Dächern der Stadt beobachten. Irgendwann vielleicht, würde er genau dort sitzen und seine Hand endlich mal wieder in die Hand einer ihm wertvoll gewordenen Person legen können und diese dann einfach nicht mehr loslassen wollen.
Ja, er war zu lange ortelos und es war an der Zeit das zu ändern.
Die alte Frau hörte geduldig zu, lächelte mit ihren lustigen Augen und so verflog die Zeit bis zum Ziel ihrer Reise.
»Wissen Sie«, sagte die alte Frau als Ben-Peter gerade ihren Liegestuhl aus dem Zug wuchtete und ihr seinen Arm zur Stufenassistenz reichte. »Sie würden meiner Freundin Jula wirklich gut gefallen. Ich hoffe, ihr beide werdet euch hier irgendwann und irgendwie begegnen. Ihr hättet einander wirklich verdient.«
Ben-Peter war bereit, er wollte gerade ansetzen, um Kontaktdaten zu tauschen oder zumindest ein Wiedersehen auszumachen.
Die alte Frau lies es nicht soweit kommen. »Schauen Sie mal da!«, sagte sie und zeigte mit ihren arthritischen Fingern zum anderen Ende des Gleises. »Sehen Sie? Eine Möwe. Das ist ein sehr gutes Zeichen für Sie und Ihre Pläne.«
»Warum?«, fragte Ben-Peter und hatte wirklich überhaupt keine Idee.
»Finden Sie es heraus, mein Junge«, sagte die alte Frau, nahm ihren Liegestuhl und ging. Sie hob noch einmal ihre Hand zum Gruß, allerdings ohne sich dabei zu ihm umzudrehen.
Schade, dachte Ben-Peter. Er hätte ihr gern mit dem Liegestuhl und den restlichen Stufen geholfen.
Er verharrte noch einen Moment, schaute der Frau hinterher und glaubte in der Ferne zu erkennen, wie eine Person mit langem braunem Haar die alte Frau in Empfang nahm. Sie nahm ihr zum Glück den Liegestuhl ab. Das konnte er erkennen.
Er blickte noch einmal zur Möwe am anderen Ende des Gleises. Die Reise war noch lange nicht vorbei. Es war an der Zeit herauszufinden, warum diese Möwe ein gutes Zeichen für ihn und seine Pläne sein sollte.
Ich habe mich in die Idee der Geschichte verliebt und würde daran gerne weiterschreiben. Wie Du mich – mal abgesehen von #DreiWorten – dabei unterstützen kannst:
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