#Kuvertüre #Thaimassage #Lammfell
Sie war in Eile. Völlig durchschwitzt stand Stefanie im Rewe. Sieben Minuten vor Ladenschluss.
»Kuvertüre, ich brauche Kuvertüre«, brüllte sie.
Die wenigen Menschen, die zu dieser Zeit noch im Laden standen, ignorierten ihren Wunsch. Bloß keine ruckartigen Bewegungen, nichts tun, was so eine durchgeknallte Irre provozieren könnte, dachten sie vermutlich. Stefanie sah das in ihren Blicken. Die ihr aber eigentlich Lattenhagen waren. Sie hatte eine wichtigere Mission.
Stefanie schloss die Augen, um sich zu fokussieren. Sie öffnete sie wieder und stand im Gang mit den Backzutaten.
Sie entschied sich in Sekunden für Zartbitter.
»Frohe Weihnachtstage«, wünschte der Kassierer.
»Hmja«, sagte Stefanie und rannte aus dem Laden.
Sie atmete die Kühle, aber sie fühlte sie nicht. Schnee war für diesen Abend angesagt. Weiße Weihnachten. Früher hätte sie sich darüber gefreut. Jetzt bedeutete es nur noch mehr Stress an Weihnachten. Sie war einfach schon viel zu lang erwachsen.
Stefanie schloss die Augen.
Nur einen Augenblick, sie war eh spät dran.
Diesen einen Augenblick wünschte sie sich.
Einen Augenblick mehr oder weniger waren jetzt auch egal.
Sie war so unendlich müde.
Stefanie öffnete die Augen und stand in der Mitte des Weihnachtsmarktes. Ihr erster Gedanke war: Schön. Schön hier. Wie schön es hier ist? Und wie es duftet. Der zweite Gedanke war: Warum haben die Buden noch auf? Hier ist doch niemand? Niemand außer mir. Sie drehte sich um ihre eigene Achse. Die Budenbesitzer winkten Stefanie mit einem Lächeln zu sich, jeder wollte sie zu sich locken.
Sie schloss die Augen für einen weiteren Augenblick.
Als Stefanie sie wieder öffnete, stand sie vor einem lila Zelt. Merkwürdig. Sie kam fast jeden Tag am Weihnachtsmarkt vorbei, das Zelt war ihr vorher nie aufgefallen. Über dem Eingang, der nur aus zwei notdürftig zusammengebunden Decken bestand, hing ein Schild:
»Wahrsagen, Tarot, Handlesen, Thaimassagen, Gel-Nägel«.
Klingt vernünftig, dachte sie und ging hinein.
Innen war es größer als es von außen schien. Stefanie hatte solche Wahrsager-Zelte schon gesehen. Zumindest im Fernsehen. Kunterbuntes, glitzerndes Schnicki Schnacki überall, ein runder Tisch, darauf eine düstere Tischdecke mit ausgeblichenen Sternen, eine Glaskugel fehlte, um das Klischee komplett zu machen. Zwei Stühle, darüber lagen Lammfelle. Stefanie hoffte, es wären Imitate. Der hintere Bereich des Zeltes war mit einem Klimpervorhang aus Glasdiamanten abgehangen.
»Hallo?«, rief Stefanie vorsichtig. Es war eher ein bemühtes Flüstern.
Der Klimpervorhang wurde mit Schwung beiseite geschoben.
»Willkommen, ich habe auf dich gewartet. Du bist spät«, sagte eine Frau mit sonderbarem Akzent. Auch sie sah so aussah , wie es sich Stefanie vorstellte. Langes WallaWallaKleid, von Kopf bis Fuß wie ein Christbaum behangen und über das üppige Make-Up würde es auf Youtube einige niederschmetternde Reviews geben.
»Wahrsagen, Tarot, Handlesen, Thaimassagen oder Gel-Nägel?«, fragte sie.
»Nun, sagen Sie’s mir«, sagte Stefanie und freute sich über ihren dezenten Witz in dieser Antwort.
Die Wahrsagerin kam näher, besah sich Stefanie von Kopf bis Fuß, zögerte auf Höhe ihrer Finger.
»Setz dich«, sagte sie.
Stefanie setzte sich, stellte die Kuvertüre auf den Tisch, als wäre das ihr Einsatz. Die Frau nahm ein Kartenspiel zur Hand. Nicht das übliche 52 Blatt. Es waren viel größere Karten mit sonderbaren Motiven. Die Wahrsagerin schloss die Augen und Stefanie fragte sich, wo sie wohl sein würde, wenn sie die Augen wieder öffnete. Die Wahrsagerin blieb wo sie war, sie mischte einfach die Karten.
»Zieh eine, Stefanie!«, sagte sie und fächerte die Karten auf dem Tisch aus.
Stefanie erschrak.
»Kennen wir uns?«
»Natürlich.«
»Das hier. Also. Eigentlich. Ich hab’s auch voll eilig.« Stefanie griff die Kuvertüre und stand auf.
»Setz dich wieder, es ist wichtig, Stefanie.«
Sie setzte sich und hasste sich dafür, die Kuvertüre behielt sie in der Hand, als wäre es ein geeignetes Wurfgeschoss. So im Notfall.
»Was soll das denn überhaupt Kosten?«
»Psssssscht! Zieh einfach eine Karte.«
Stefanie ergab sich, zog eine Karte. Die Wahrsagerin deckte sie auf.
Stefanie sah hin. Sah zweimal hin. Sah ganz genau hin.
Sie lächelte, dann lachte sie. So tüchtig und kräftig wie ein langvermisstes Lieblingslied.
Stefanie schloss die Augen. Und öffnete sie vermutlich wieder. Irgendwo.
Die Kuvertüre fiel zu Boden.
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